Von psychischen Dick- und Dünnhäutern

  • von Kristina Trautmann
  • 05 Feb., 2019

„Der ist einfach nicht belastbar. Aber den da kriegt so schnell nichts klein.“ Diese Aussagen kommen Ihnen bekannt vor? Wir sind oft ganz schön gut darin, Menschen in Kategorien - oder böse gesprochen in Schubladen- zu verorten. Aber wie üblich steckt etwas Wahres in diesen Aussagen - nur hat das nichts mit besser, schlechter, stärker oder schwächer zu tun, sondern mit UNTERSCHIEDLICH. Welche Wahrheiten hinter diesen Bewertungen stecken und welche Gaben beide Menschentypen mitbekommen haben, erfahren Sie in diesem Artikel.

Machen wir eine kleine gedankliche Reise in die heiße Savanne von Afrika. Dort beobachten wir zwei Elefanten an einem Wasserloch. Der eine, nennen wir ihn Benjamin, ist groß gewachsen mit kräftigem Rüssel, bombenfestem Stand und dicker, lederartiger Haut. Er wirkt majestätisch und so schnell kann ihn nichts bewegen, geschweige denn bedrohen. Der andere, nennen wir ihn Blümchen, wirkt etwas kleiner gewachsen. Blümchen ist etwas zarter, mit einem langen, beweglichen Rüssel ausgestattet und mit schmaleren, aber für seine Konstitution passend wirkenden Beinen kommt er daher. Seine Haut scheint dünner und feinporiger, als die von Benjamin zu sein. In ihrem Zuhause, der Savanne, und in ihrer Herde hat jeder von ihnen seinen passenden Platz gefunden. Beide sind gleichwertig. Die Natur hat sich schon etwas dabei gedacht.

Sind sich Natur, Evolution und Gesellschaft wohl einig?

Nehmen wir Benjamin und Blümchen mit in unserem Menschendschungel. Was glauben Sie, sind Sie bei uns auch gleichwertig?

An Benjamins dicker Haut prallt sehr vieles ab. In seinem festen Stand erschüttert ihn so schnell nichts. Damit ist er wohl das Sinnbild des resilienten/robusten/widerstandsfähigen Menschen, den sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert wünscht. Nicht ohne Grund boomt der Resilienzbegriff seit Jahren. In Zeiten von rückläufigen Traditionen und Orientierungspunkten, ständigen Reformen, Veränderungsprozessen durch Digitalisierung und der Wegrationalisierung des Menschen scheinen die Krisenfesten, die Unerschütterlichen die Gruppe zu sein, auf die Verlass ist. Die solche Entwicklungen ohne negative Folgen überstehen und nicht zusätzlich mit behandlungsbedürftigen Krankheiten und Fehlzeiten belasten.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich befürworte die zunehmende Sensibilität und Verantwortung für die psychische Gesundheit sehr! Aber aus meiner Sicht darf z.B. ein Resilienz- oder Stressbewältigungsseminar kein Freifahrtschein für ein unbeschränktes Kontingent von Belastungen sein. Jeder Mensch, wie widerstandsfähig er auch ist, hat seine Grenzen des Erträglichen. Wäre das nicht so, wären diese Menschen gefühlskalt und ignorant und damit weit weg von sich selbst und psychischer Stabilität.

Da kommt unser zartes Blümchen ins Spiel. Blümchen reagiert schneller als sein Kumpel Benjamin. Im Menschendschungel ist er schneller betroffen von den genannten Ereignissen. Das kann ihn schneller irritierten und aus der Bahn werfen oder aber eine frühzeitige Chance bieten, sich den Entwicklungen anzupassen. Kommt Benjamin an seine Grenzen, knallt er vor mit Karacho vor die Wand. Denn er hat während der Fahrt gar keine Notwendigkeit gehabt, sich zu verändern und anpassen zu müssen. Vielleicht hat er nicht mal bemerkt, dass etwas vor sich geht. Denn er hat nichts gespürt – kein Ziehen in der Magengegend, keine Müdigkeit, keine inneren Widerstände. Sein Fell war dick. Blümchen hat während der Fahrt bereits aus dem Fenster geschaut. Vielleicht hat er das Wetter im Blick behalten, hat sich für Kälte oder Wärme am Zielort wappnen können. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass die Reise lang wird und sich währenddessen ausgeruht.

Kurz gesagt: Benjamin ist krisenresistent, solange die Krise begrenzt ist. Dauert sie unerwartet lang, läuft er Gefahr, in ein umso tieferes Loch zu fallen, ohne ein hilfreiches Seil, um wieder herauszukommen. Blümchen reagiert schnell auf Krisen und Herausforderungen, mit dem Risiko frühzeitig an seine Belastungsgrenzen zu stoßen oder aber seine Sensibilität als Chance zu nutzen, sich frühzeitig zu wappnen und anzupassen – eine nachhaltige Strategie.

Am besten sind wir im Team!

Benjamin und Blümchen stellen natürlich nur Stereotype und eher Extreme dar. Die gibt es bei uns Menschen auch, aber meistens bewegen wir uns dazwischen. Beide Typen haben Ihre beschriebenen Potenziale und Risiken. Erfreulicherweise haben wir unterschiedliche Anteile in uns und wir können Anteile von Benjamin und Blümchen in unserer Persönlichkeit tragen und sie auch gezielt fördern.

Jeder von uns bringt dabei eine gewisse Grundkonstitution mit. Sie hängt nicht nur mit unserem Charakter, sondern auch unserer körperlichen Konstitution zusammen. Die „Blümchen“ unter uns sind beispielsweise reizempfindlicher als die „Benjamins“, was die Voraussetzung für die feine Auffassungsgabe und gleichzeitig höhere Stressempfindlichkeit darstellt. Das ist also weit mehr als Hokuspokus oder Einbildung und lässt sich nicht im Kern verändern. Trotzdem können sich die beiden Kumpel etwas voneinander abgucken und die gewünschten Eigenschaften trainiert werden.

Tipps für die „Benjamins“ unter uns

Ihre Stärke liegt vermutlich in Ihrer Robustheit. Fokussieren Sie daher bewusst den Gegenpart, nämlich die Sensibilität. Diese lässt sich gezielt aktivieren und fördern:

  • Fragen Sie sich täglich selbst: Wie gehts mir heute?
  • Fragen Sie verschiedene Menschen in Ihrem Umfeld regelmäßig nach Ihrer Einschätzung / Wahrnehmung einer Situation (gerne Blümchentypen, wenn Sie diese in Ihrem Umfeld identifizieren können)
  • Wechseln Sie die Perspektive: Wie würde meine Familie, wie würden meine Freunde oder Kollegen die Situation beurteilen?

Durch die Perspektivensammlung können Sie einen umfassenden Blick auf eine Situation bekommen und sich so frühzeitig auf mögliche Entwicklungen vorbereiten und einstellen. Das kann Sie selbst letztlich vor unerwarteten Herausforderungen und Überforderungen schützen.

Tipps für die „Blümchen“ unter uns

Ihr Potenzial liegt vor allem in der Sensibilität und frühzeitigen Wahrnehmung von Entwicklungen, Stimmungen und Veränderungen. Rücken Sie daher die gesunde Abgrenzung und Entwicklung von Schutzmechanismen in den Fokus. Dabei kann dies hilfreich sein:

  • Wenden Sie Ihre Sensibilität auf sich selbst an und erkennen Sie Ihre Reaktionsmuster (z.B. schnelle Überlastung unter Menschenmassen)
  • Durch Vermeidung dieser Trigger schützen Sie sich generell vor der Belastung
  • Das ist in vielen Fällen nicht möglich. Daher kann eine bewusste Dosierung Ihrer stressauslösenden Situationen die Belastung abschwächen (z.B. begrenzte Zeit in Menschenmassen, danach Zeit alleine)
  • Ist das auch nicht möglich, können innere Dialoge / wohlwollende Selbstgespräche hilfreich sein, um sich auf die Situation einzustellen: z.B. „Ich weiß, diese vielen Menschen sind anstrengend für mich. Das ist okay. Ich darf mich innerlich zurückziehen, wenn mir danach ist. Oder ich kann vor die Tür gehen und mich einen Moment entziehen. Vielleicht lerne ich aber auch einen spannenden Menschen kennen und führe tolle Gespräche“.

Die Psychoanalytikerin Maja Storch* hat die für mich so treffenden Begriffe psychische Dünnhäuter und Dickhäuter als Sinnbilder für die unterschiedlichen Konstitutionen ausgewählt. Damit einher gehen sicherlich noch weitere Zuschreibungen wie introvertiert und extravertiert, schüchtern und gesellig, hochsensibel und robust usw…

Ich wünsche Ihnen Sensibilität für sich selbst und eine große Portion Verständnis und Wertschätzung dafür, dass Sie so sind, wie Sie sind. Die Natur hat sich ganz bestimmt etwas dabei gedacht.


Ihre Kristina Trautmann

 

* Gunter Frank / Maja Storch (2011): Manana-Kompetenz – Auch Powermenschen brauchen Pause. München: Piper.