(Un-)Gesundes Verhalten? Positive Aspekte von Rauchen & Co.
- von Kristina Trautmann
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- 22 Jan., 2019

Rauchen, Alkohol, Zucker, Sitzen, Fernsehen – was lösen diese Begriffe bei Ihnen aus? Bei mir kommt als Erstes ein Gefühl wie „Vorsicht! Bloß nicht zu viel davon. Am besten gar nicht. Hochgefährlich.“ Das hat auch gut belegte medizinische Gründe, denn Zusammenhänge mit diversen Krankheitsbildern sind für diese Aktivitäten bewiesen und auch sehr vielen von uns in dieser Funktion bekannt. Warum verdammt tun wir es trotzdem? Und genießen es in vielen Fällen auch noch? Das werde ich in diesem Artikel diskutieren und möchte einen etwas anderen Blick darauf werfen: Nämlich auf den persönlichen positiven (!) Nutzen dieser ungesunden Verhaltensweisen.
Liebe Raucher, wie fühlen Sie sich so in der heutigen Gesellschaft? Liebe Chips-essende-Netflix-Sofa-Liebhaber, wie gerne erzählen Sie Ihren Kollegen am Montag, dass Sie das ganze Wochenende so verbracht haben und kein bisschen frische Luft vermisst haben? Ich bin mir ganz sicher – aus eigener Erfahrung und umfangreichen Beobachtungen – dass jeder von uns so eine Verhaltensweise besitzt. Die man sich manchmal kaum traut, jemandem zu erzählen, weil sie in die Schublade „Nicht OK“ fällt. Von meinem Mann höre ich aus dem beruflichen Kontext öfters mal „das Qualitätsmerkmal ist n.i.O.“ – also nicht in Ordnung. „Lieber Raucher, lieber Couchpotatoe, deine Verhaltensweise ist n.i.O. Eigentlich bist auch Du n.i.O.“. Die Gesellschaft hat also beschlossen, dass Du nicht in Ordnung bist.
Gesellschaftliche Ablehnung kann tiefgreifende Konsequenzen haben
Diese Sätze lesen sich so banal, aber es sind in vielen Fällen unausgesprochene Grundsätze, aus denen eine bestimmte Behandlung oder Einordnung erfolgt: Zeigt man diese Verhaltensweisen in Gesellschaft, erntet man nicht selten abwertende, gar erschrockene Blicke oder gleich wörtliche Kommentare dazu. Mit teils verheerenden Folgen, angefangen vom schlechten Gewissen bis zum gesellschaftlichen Rückzug oder der Abwertung des Selbstwertes mit der Annahme der Botschaft „Ich bin nicht in Ordnung“. Was passiert dann? Der Raucher raucht mehr, der Couchpotatoe bleibt erst recht auf seinem sicheren Sofa und die Naschkatze schlickert noch mehr – das Verhalten wird also verstärkt. Und das vor dem Hintergrund, dass jeder von uns eine kleine „Verhaltensleiche“ im Keller hat.
Was ist denn eigentlich „gesund“?
Das Paradoxe ist doch, dass sich niemand (!) von uns ausschließlich nur als gesund geltende Verhaltensweisen zeigt. Selbst bei jemandem, der sich gesund ernährt, viel bewegt, keinen Zucker und Alkohol konsumiert und natürlich nicht raucht, kann dieses Gesundheitsideal als einengend und fremdbestimmt empfunden werden und in negativen Stress ausarten. Zack, vorbei mit der 100% gesunden Lebensweise. Hinterfragen wir doch mal das gesund.
Im Allgemeinen setzen wir Gesundheit immer noch oft mit körperlicher Unversehrtheit und einer ärztlichen Bescheinigung wie „medizinisch einwandfreies Exemplar“ gleich. Aus dieser Perspektive hat die Gesellschaft in vielen Punkten Recht: Viele als ungesund geltende Verhaltensweisen haben Ihren Ruf zurecht bekommen, weil Sie nachgewiesenermaßen Risikofaktoren für Krankheiten darstellen und die wollen wir natürlich alle vermeiden. Allerdings sind wir mehr als nur unser Körper. Es besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass Gesundheit darüber hinausgeht und auch eine seelische und soziale Komponente hat*. Und den beiden geht es ganz schön ins Mark, wenn Sie für etwas verurteilt werden, dass nur aus einer Perspektive bewertet wird, nämlich aus der körperlich-medizinischen.
Eine konstruktivere Perspektive: Verständnis für das eigene Verhalten entwickeln
Wir haben also drei Anteile in aus, aus denen unser Gesundheitsverhalten entspringt, auf die es Auswirkungen hat und die es auch wieder bewerten. Die folgende Abbildung verdeutlicht das in Form einer Verhaltensbilanz am Beispiel Rauchen.

Jeder Anteil hat seine Argumente für und gegen
diese Verhaltensweise. Daraus entstehen drei Bilanzen, von denen die
Entscheidung für oder gegen eine Verhaltensweise abhängt. Im Beispiel Rauchen
zieht der körperliche Anteil eine negative Bilanz, der seelische und soziale
allerdings eine positive – also 1:2 für das Rauchen. Die Anteile, oder auch einzelnen Argumente, können dabei auch noch eine unterschiedliche Gewichtung haben. Wenn z.B. die körperliche Gesundheit einen besonders hohen Stellenwert hat, können diese Argumente die anderen beiden Bereiche überlagern. Genauso kann z.B. ein besonders hoher Wunsch nach Zugehörigkeit die gesamten Argumente des körperlichen Anteils aushebeln.
Die Entscheidung für ein Verhalten hängt also von viel mehr ab als der medizinischen Studienlage. Häufig handelt es sich um emotionale Argumente, die oft viel schwerer wiegen als die rationalen Gründe: Entspannung fühlt sich schön an, sich ablenken zu können vermeidet negative Gefühle, Zugehörigkeit und Gemeinschaft lösen Glücksgefühle aus. Aus dieser Perspektive bezwecken wir mit diesen Verhaltensweisen sehr wohl positive Effekte für unsere Gesundheit! Optimal wäre es, alle drei Anteile und alle Argumente – Pro (Nutzen) und Kontra (Risiko) – zu berücksichtigen. Dabei kann eine Risikoabschätzung behilflich sein:
- Wie hoch schätze ich Risiko und Nutzen ein? Gibt es Studien, persönliche Erfahrungen oder andere Einschätzungen dazu?
- Wie kurz- oder langfristig sind Risiko und Nutzen?
- Ist der Nutzen für mich persönlich das Risiko wert?
- Welche risikoärmere Varianten sind möglich?
Verhaltensweisen entwickeln sich oft unbemerkt. Sie können aber auch bewusst herbeigeführt und auch hinterfragt werden. Gibt es ein Verhalten, dass Sie gerne verändern möchten? Erstellen Sie einfach mal die oben dargestellte Bilanz dafür und nehmen die Risikoabschätzung vor. Es kann hilfreich sein, sich vorzustellen, in welchen Momenten Sie sich wohl mit Ihrem Verhalten fühlen (+ / Nutzen) und wann Sie sich unwohl fühlen (- / Risiko).
Selbstverständnis und Mitgefühl als Schlüssel für nachhaltige Veränderung
Hinter unseren ungesunden Verhaltensweisen steckt also doch meistens eine gesunde, wohlwollende Absicht. Und sich eine Verhaltensweise einfach wegzunehmen, ohne für Ersatz zu sorgen, beseitigt das Bedürfnis hinter dem Verhalten nicht. Im Gegenteil, häufig sorgt es für zusätzlichen Stress, weil ich gar keine Strategie mehr zur Verfügung habe.
Um sich selbst endlich das schlechte Gewissen zu nehmen und einen nachhaltigen Ansatz für eine gewünschte Verhaltensänderung zu haben, erweist sich diese Frage als wunderbar hilfreich:
- Was ist der gute Grund für mein Verhalten?
Damit begegne ich mir selbst wertschätzend und verurteile mich nicht. Durch diese Haltung kann ich den Zugang zu den wahren Motiven für mein Verhalten bekommen. Wenn ich mich selbst und meine Absichten kenne und verstehe, dann kann ich meinen Bedürfnissen eine attraktive, risikoärmere Variante anbieten und die ungesunde Verhaltensweise wird nicht mehr benötigt.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich selbst mit Verständnis und Wohlwollen begegnen können – und zwar allen Anteilen und Verhaltensweisen, auch denen, die Sie eigentlich gerne im Keller verstecken möchten. Wenn wir es schaffen, uns selbst und unser eigenes Verhalten anzunehmen, dann können wir das auch im Umgang miteinander schaffen und uns gemeinsam positiv verändern und entwickeln. Darauf freue ich mich sehr.
Ihre Kristina Trautmann
* Vgl. dazu:
Badura, B., et al. (1999): Betriebliches Gesundheitsmanagement - ein Leitfaden für die Praxis. Edition Sigma, S. 24.
Weltgesundheitsorganisation (2014): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Verfügbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf.